Arthur Rimbaud nachgedichtet: «Une Saison en Enfer» im Theaterhaus Gessnerallee
Une Saison en Enfer – Kritik in der NZZ
Der Zürcher Michel Schröder gehört zu den stilsichersten Jungregisseuren des deutschsprachigen Theaters; sein Stück über Rimbaud – nach dem bravourösen «Quixote» im Jahr 2005 – an der Gessnerallee geht einen ungesicherten Kantengang, und es drängen sich drei Fragen auf.
Gluthimmel, Perlmuttfluten und er, verloren im Haar geheimer Buchten: Rimbaud («Ich ist ein anderer») deliriert nackt in einem Zuber und wäscht sich – mit schwarzem Schlamm. In der linken Bühnenhälfte kauert eine Wasserleiche überm Schlagzeug, rechts dräut die Rettungsinsel als bürgerliches Sofa mit Harmonium und dem Ehepaar Verlain; über allen schliesslich ragen die Masten eines trunkenen Schiffes, das diese blinden Passagiere durch einen riskanten Theaterabend bringen soll. «Une Saison en Enfer», nach dem gleichnamigen Prosagedicht des Revolutionsromantikers Arthur Rimbaud, ist ein wagemutiger Versuch, Lyrik in optische und akustische Reize zu übersetzen. Lyrik notabene, die den Absolutismus der Poesie als Staats- und Lebensform ausrief. Warum also kommt dieses Stück auf die Bühne?
Wer die Frage unbeantwortet im Raum stehen lassen kann, wird an der neuesten Arbeit des mindestens so eigensinnigen wie stilsicheren Michel Schröder Gefallen finden. Nicht nur, dass sein Bühnenbildner, Duri Bischoff, und seine Kostümbildnerin, Nic Tillein, auch in diesem Fall eine Arbeit leisten, die preiswürdig ist. Tillein kleidet Rimbaud, den Dichter, und des Dichters Entourage als androgyne Extraterrestrische, Grunge- Girls und Edelpunks, die aus Zeit und Raum gefallen scheinen. Und Schröder, der Regisseur, mutet uns einen Materialien-Steinbruch zu, der mit ähnlichen Form- und Stilprinzipien wie Rimbauds Poesie arbeitet: mit übergangslos nebeneinander gesetzten Bewegungen, Fragmenten und gebrochenen Lineaturen; mit einer Alchemie blendender Bilder und einer exaltierten Fusion disparatester Materialien (Film, Musik, Text). Sein synästhetisches Evangelium einer leidenden Seele ist ein szenisch sprühendes Fragment in neun Abteilungen (entsprechend der Dramaturgie von «Une Saison en Enfer») und eine Lobpreisung des verzweifelten Ketzers zu dessen 110. Todestag.
Drei Fragen indes drängen sich nach der Uraufführung dieser exzentrischen Höllenfahrt auf. Wieso wurde die Figur des Verlain mit einem Darsteller (Thomas U. Hostettler) besetzt, der an Klaus Kinski in seinen schlechtesten Tagen erinnert? Kam der (kabarettistisch) ungleich begabtere Herwig Ursin (als Rimbauds Liebhaber, Verlain) dafür nicht in Frage, weil er bereits in Schröders Projekt über Cervantes den «Quixote» so hinreissend gab? Und weshalb muss die üblicherweise überzeugende Sandra Utzinger (als Verlains Alter Ego und dessen gestrenge Mutter) sich an den Tod ihres Sohnes mit einem schwerem Schweizer Zungenschlag erinnern?
Es sind diese inszenatorischen Ungereimtheiten, die die Bilanz eines tollkühnen Abends ins Minus ziehen. Im Plus aber werden sie überglänzt von Michel Schröders Kunst der Bildschöpfung, mit der sich ein Talent furchtlos in das Abenteuer Rimbaud stürzt. Scheitern hier ist Ehrensache.
Daniele Muscionico