Von der Kürze des Lebens – 2 Kritiken zum Gastspiel am «Unidram, internationales Theaterfestival Potsdam»
Aussenwelten, Innenwelten
Potsdamer Neuste Nachrichten 3.11.2012
Bei der kraut_produktion „Von der Kürze des Lebens“ aber ging es zu wie auf der Müllhalde. Ein Chaos aus Brettern, Autoreifen und sonstigem Gerümpel auf der großen Bühne der Waschhaus-Arena, Abbild des Lebens draußen, Abbild dessen, was man so unter „Kultur“ versteht. Trash eben, Müll, Schund! An diesem Thema arbeiteten sich die fünf Züricher Darsteller nun über fast zwei Stunden schweißtreibend ab. Fragmente aus den Medien werden nachgesprochen oder per Video projiziert, man bemüht das Philosophische Quartett aus dem TV, die berühmte Talkszene mit Klaus Kinski, singt Rocker-Lieder in vollster Lautstärke, kriecht und kopuliert durch das Chaos. Knallharte Breaks, kantige Szenen, ein Wechselbad an Extremen. Plötzlich tragen alle Masken, die aussehen, als würde ihnen das Gehirn über den Scheitel gelaufen sein. Alle Außenwelt samt ihrer Repräsentanzen ist hier nur Sprachmüll, Wortmüll, Gedankenmüll. Man kann nicht mehr miteinander reden beim sprachlosen Denken, es gibt auch nichts mehr zu sagen, wo die grauen Zellen verblödet veröden. Stammeln und Schreien – ja, mehr geht nicht! Dies ist dann auch der Stoff, welcher die Figuren auf ihrer Bühne so hilflos, so trotzig, so ziellos handeln lässt. kraut_produktion zeigt dieses Stammeln, Stöhnen und Zappeln zwar mit etlichen Längen, dafür aber mit einer selten gesehenen Radikalität. Kaum einer im Publikum floh. Nachdem sich auch der x-te Neuansatz einer Szene als sinnlos erwies, das sarkastische Finale: Wer kann, findet nackt in einer Badewanne Platz! Ist ja auch „Kultur“, und so kuschelig, so gemütlich!
von Gerold Paul
Neu und quer gedacht
Potsdamer Neuste Nachrichten 5.11.2012
Die Schweizer Anarchos der „kraut_produktion“, die mit ihrer respektlos erfrischenden und radikalen Inszenierung „Von der Kürze des Lebens“ so ziemlich alles Maß nahmen, was in der heutigen Medien- und Kunstlandschaft aus den Fugen gerät, bringen den Widerspruch auf den Punkt: „Da wird immer gesagt: Die Künstler sollen das Publikum abholen. Aber bloß von wo?“ Früher habe der Zuschauer sich geschämt, wenn er etwas nicht verstanden hat, was auf der Bühne präsentiert wurde. Heute klagt er an und zeigt sich emanzipiert. Er spielt selbstbewusst den Ball zurück. Wenn der Zuschauer sagt: Das habe ich nicht verstanden, soll der Künstler gefälligst über sich selbst nachdenken. „Senkt das im Voraus das Niveau, beschneidet sich der Künstler schon im Vorfeld, weil er denkt, nicht verstanden zu werden?“ Fragen, die die Züricher in ihrem bildwuchtigen Szenenreigen wie nebenbei aufwerfen.
von Heidi Jäger