Reden über Theater – Kritikerrunde auf Radio SRF am 9. 5. 2014 zu The Deconstruction of Death
Dagmar Walser
Wir kommen zur zweiten Produktion, die wir hier in der Theaterkritikerrunde in Reflexe besprechen wollen: Wir bleiben in der freien Zürcher Szene. Michel Schröder ist der Ko-Leiter vom Fabriktheater der Roten Fabrik und er ist auch der Kopf und Regisseur der Gruppe kraut_produktion (…) Wir haben über Trash-Ästhetik gesprochen, darüber, wie man unterschiedliche Materialen zusammenbringt, in einen Topf schmeisst. Vielleicht auf die Bühne schmeisst, um damit grosse Themen, elementare Fragen auch zu stellen. Das tut auch diese Produktion. Es geht um den Tod, so zumindest sagt es der Titel, «The Deconstruction of Death», die Dekonstruktion des Todes. Was haben Sie an diesem Abend erlebt, Andreas Tobler?
Andreas Tobler
Ich glaube, ich habe einen grossen Bilderreigen zum Thema Leben und Tod gesehen an diesem Abend. Der sich auch mehrfach wiederholt, aber eigentlich war das für mich schon auch wieder so ein Abend, so ein Rastplatz der Reflexion, vor dem man gut sitzen kann.
Dagmar Walser
Ein Rastplatz…
Andreas Tobler
Ein Rastplatz der Reflexion, das hat mal Oskar Negt gesagt, das finde ich eigentlich einen schönen Begriff für Theater. Und auch hier: es war ein sehr lauter und sehr bunter und irgendwie vielleicht auch sehr vulgärer und primitiver Abend in gewissen Aspekten, aber ich finde, dass man davor irgendwie sehr unangestrengt sitzen kann, weil er bei mir nichts abholen will, was ich an diesem Abend nicht leisten möchte. Also, dass ich da nicht irgend eine Anstrengung vollbringen muss, die ich nicht erbringen möchte.
Dagmar Walser
Ein entspannter Abend, der auch viel Material zur Verfügung stellt, für Sie, Andreas Tobler. Geneva Moser?
Geneva Moser
Ja ich war da weniger entspannt, glaube ich. Oder ich habe zumindest versucht, eine Leistung von Deutung zu erbringen, was mir leider nicht sehr gelang. Also, ich habe auch einen sehr lauten, auch vulgären, obszönen, provokativen Abend gesehen, einen Abend, der mich mit allen Sinnen irgendwo belästigt hat, auch. Also ich glaube, dass der mich auch belästigen wollte, und ich bin leider da irgendwie nicht ganz reingekommen. Ich habe einige spannende installative Momente gesehen, die ich deuten konnte und sonst bin ich draussen geblieben.
Dagmar Walser
Was sieht man denn auf der Bühne? Wie arbeiten Michel Schröder und sein Team?
Andreas Tobler
Also was man sieht, ist ein weisser Bühnenraum, der schon so ein bisschen abgebrochen ist. Und da drin gibt es eigentlich eine Picknickszene – deshalb ist vielleicht dieser Rastplatz der Reflexion so die nahe liegende Assoziation. Und auf dem geschehen Aktionen. Man sieht ein Pärchen mal eine zeitlang, und dann eben geht es mal ziemlich bald rüber ins Vulgäre und ins Primitive. Es gibt auch eine Türe, durch die eine Art ein Tod hereinkommt, Thomas Hostettler, ein Schauspieler, schreitet mal auf Sensen durch den Raum, so wie auf Krücken, und… das ist so was Revuehaftes, das hat so eine revuehafte Struktur, in der es einzelne Szene gibt, die sich auch wiederholen und so wird ein Bogen aufgespannt, in dem es mal mehrere kleine Szenenvorgänge gibt, die nicht gross kommentiert werden.
Dagmar Walser
Konnten Sie es denn deuten? Geneva Moser hat gesagt, dass sie an eine Grenze, an etwas Störrisches geraten ist, als sie versucht hat, das zu deuten, was sie gesehen hat. Wie ging es Ihnen damit?
Andreas Tobler
Also, in der freien Szene und in den avancierten Künsten scheitert man glaube ich immer, wenn man alles deuten will und immer fragt: «Was ist jetzt der Sinn?». Das ist so ein bildungsbürgerlicher Begriff von Kunst, den wir alle in der Schule vermittelt kriegen, dass wir alles, was auf der Bühne geschieht, immer als Symbol deuten müssen. Aber was man sieht, sind einfache Vorgänge. Es passiert etwas! Das muss nicht unbedingt sinnvoll sein, was man da sieht, oder es muss nicht zur grossen Sinnstiftung führen. Dass kann dazu führen. Aber ich muss mich ja nicht die ganze Zeit im Ehrgeiz anstacheln und sagen: «Das müssen jetzt Antworten auf die letzten Fragen sein».
Dagmar Walser
Um was geht es denn? Ums Erlebnis? Oder worum geht’s?
Andreas Tobler
Ich glaube es ist schon einfach so ein Abend, vor dem man sitzen kann und sagen: «Wo bin ich mit meiner Energie?», «Packt mich das?» «Streift es etwas in meinem Leben, oder lässt es mich kalt?» Und ich glaube, man darf da auch ganz lange davor sitzen und sagen: «Ja ja, das zieht jetzt so vorüber», wie so eine Zugfahrt, in der man halt auch auf die Landschaft guckt und nicht sagt: «ja, das ist jetzt aber eine grosse Antwort auf das Leben» oder so. Sondern es ist einfach eine Landschaft, die vorbeizieht, vor der man sitzt. Und vielleicht ist dann da ja etwas, das man entdeckt und man sagt: «Das hat total viel mit mir zu tun, oder das reagiert auf etwas oder fordert mich in etwas heraus». Aber eigentlich ist es einfach eine Landschaft, vor der man sitzt.
Dagmar Walser
Es ist ja so eine Collagentechnik, die die Arbeit von Michel Schröder und kraut_produktion auszeichnet, die suchen im Internet ganz verschiedenes Material zusammen, seien es YouTube-Filme, seien es Texte, seien es Chatrooms – die jetzt in dieser Produktion nicht vorkommen, davor aber oft als Grundlage für Szenen gedient haben – Geneva Moser nochmals: was hat Ihnen denn der Abend so schwer gemacht, da reinzukommen. Andreas Tobler hat beschrieben, dass das Ziel eigentlich so etwas ist, wie mit dem Abend zu surfen, mit dem Abend zu gehen, sich dabei selbst zuzugucken, was man erlebt, wo man was rausziehen kann. Sie haben einen anderen Abend erlebt.
Geneva Moser
Ja, ich glaube mein Problem war, dass ich das von Anfang an nicht als Landschaft betrachten konnte, die vorbei zieht, sondern dass ich von Anfang an den Eindruck hatte, da wird versucht mir zu Leibe zu rücken. Und das einerseits mit Musik, sehr lauter Musik, die so laut ist, dass ich mich davor mit Ohrenstöpseln schützen muss, mit Geruchsprays, die mir einen, ich weiss nicht, ob das Leichengeruch war, aber ähm, die mir entgegen gesprayt werden und mich diesem Geruch aussetzen. Da wird Reality-Fernsehen gezeigt und vorgeführt, wo ein Mensch, der in einer verwahrlosten Wohnung gestorben ist, aus dieser Wohnung entfernt werden musste, die Leiche eines Menschen und ich hab das Gefühl, da wird auch Sex in allen erdenklichen Positionen gezeigt, und ich hatte das Gefühl. da wurde versucht, mich zu provozieren – und irgendwie hat mich das nicht provoziert, sondern nichts mit mir gemacht. Ich wusste nicht, warum diese Provokation? Was will sie bezwecken in mir? Und dann bin ich draussen.
Dagmar Walser
Ging es denn um den Tod?
Geneva Moser
Ja den Tod, ich habe den ein bisschen gesucht. Es gab manche Szenen, wo ich das Gefühl hatte, da ging es vielmehr darum, das Leben in Relation zum Tod zu sehen, also wo beispielsweise Alltagsgegenstände, eben Lebensmüll, Einkaufstüten, Stühle, Haarföhns, Hellraumprojektoren, Putzutensilien auf die Bühne gestapelt wurden und darunter ein Mensch begraben lag, der dann eigentlich zu so einem atmenden Müllhaufen wurde und da hatte ich den Eindruck, da geht es tatsächlich um das Leben und um das Sterben danach. Also, wie wir so Dinge anhäufen und dann irgendwann unter diesen Dingen nicht mehr atmen.
Damar Walser
Also eigentlich Lebenspraktiken, was wir alles tun bis zum Tod.
Andreas Tobler
Ich glaube, was Geneva Moser beschrieben hat, diese Provokation und warum das bei mir dann eben nicht als solche stattfindet oder nicht bei mir ankommt, ich glaube, das hat ganz viel damit zu tun, dass die Sachen, die kraut_produktion auf die Bühne bringt, eigentlich immer viel zu gross für mein Leben. Deshalb kann ich da so ruhig davor sitzen und denken: «Ja, jetzt geschieht diese Aktion, jetzt sehen wir da die wirklich sehr obszöne anale Penetration», das gab es ja unter Anderem auf der Bühne, oder wir sehen eben dieses eine Video von diesen Tatortreinigern, ein Werbefilm von Firma, die darauf spezialisiert ist, Leichenüberreste aus Wohnungen zu entfernen. Und die haben plötzlich so einen tiefschwarzen Humor in diesen Werbefilm reingebracht. Also es sind wirklich Monstrositäten, mit denen man konfrontiert ist, vor denen man ganz ruhig sitzen kann, weil sie so viel zu gross sind für diesen Moment und das, was ich in diesem Moment bewältigen kann. Und das macht einen… das macht mich ruhig, es ist paradox, aber ich sitze davor und ich denke, ich bin ganz ruhig, denn das ist alles so gross, das tobt über mir.
Dagmar Walser
Lustig, wie unterschiedlich man auf denselben Abend reagieren kann, Theater auf jeden Fall als Erlebnis und Herausforderung – das nicht als Widerspruch. Zeitgenössische Theaterformen: neue Arbeitsweisen stecken dahinter, die eben provozieren oder erfreuen können.