«Eine Relevanz, die man so normalerweise im „grossen“ Theater nicht zu sehen bekommt»

Reden über Theater, Kritikerrunde in Reflexe auf Schweizer Radio SRF2 – Gespräch über «Human Resources»

Dagmar Walser: Reflexe, wir sind mitten in einer Theater-Kritikerinnen-Runde mit Kaa Linder und Geneva Moser – und kommen nun noch zu einer Produktion, die letzte Woche in Zürich Premiere hatte: «Human Resources, ein Gemeinschaftsdelirium». Da haben sich zwei Zürcher Gruppen zusammengetan, die beide schon länger Theater machen, kraut_produktion um den Regisseur Michel Schröder auf der einen Seite und das Theater HORA, bei dem seit mehr als 20 Jahren geistig behinderte Schauspieler und Schauspielerinnen professionell Theater machen. Mit was für einem Eindruck sind Sie da gekommen, Geneva Moser?

Geneva Moser: Ich hatte sehr sehr Freude an diesem Abend. Ich fand das unglaublich vielfältig und lebendig und begeisternd auch und da ist ganz viel übergeschwappt von Spiellust, die ich da auf dieser Bühne gesehen habe, das hat mir sehr gut gefallen.

Kaa Linder: Ja, mir ging es ähnlich. Ich muss vielleicht auch sagen, den nachhaltigeren Eindruck hatte ich ungefähr zehn Tage vor der Premiere, ich hatte ja die Möglichkeit, ein bisschen einen Einblick zu erhalten in diese Produktion auf einer Probe und eigentlich ging es mir beide Male ähnlich, ich war erfrischt, ich war vitalisiert, ich war auch ein bisschen durchgeschüttelt und musste viel nachdenken, aber eigentlich war es ein tolles Gefühl!

Dagmar Walser: Was diese beide Gruppen denn zusammen? Oder was machen diese Spielerinnen und Spieler, diese geistig behinderten und die freien Schauspieler, dass sie einen so erfrischt zurücklassen?

Geneva Moser: Im Zentrum dieses Abends steht ja diese Frage nach dem persönlichen in der Gesellschaft und da haben sich beide Gruppen ja auf ganz unterschiedliche Weise daran angenähert. Und was es so lebendig macht ist diese Echtheit, die sie dabei haben, ich glaube, dass die SpielerInnen von HORA eine unglaubliche Ehrlichkeit haben, sich selber auf diese Bühne zu bringen, sich nicht zu scheuen, den eigenen Impulsen nachzugehen und einfach das zu tun, woran sie Spass haben. Und ich glaube, dass da kraut im Probenprozess ganz viel davon gelernt hat und das auch versucht hat, sich selber eben einfach auf diese Bühne zu bringen und auch zu lernen an dieser Echtheit, die die HORA-SpielerInnen mitbringen.

Dagmar Walser: Also eine Unmittelbarkeit im Spiel. Jetzt haben Sie gesagt, es geht auch um den Wert des Menschen, oder die Wertigkeit von Menschsein.

Kaa Linder: Ja natürlich, das steht – und das ist eigentlich sehr intelligent gemacht, dass man einerseits sich als freie Gruppe so einer anderen freie Gruppe mit sehr eigenen Spielregeln und Verhaltensweisen ausliefert und sich gleichzeitig die Frage stellt, wenn man heutzutage von Humankapital spricht und in dieser HR-Rhetorik da diese Systeme übereinanderlegt, was passiert denn eigentlich da? Was sagen wir aus in einer Gesellschaft, wenn wir sagen, ein Mensch ist nur dann wertvoll nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip, wenn er soundso viel leistet? Was passiert denn da, wenn man das jetzt auf geistig behinderte oder eingeschränkte Menschen herunterbricht? Und da kann sich natürlich auch eine Gruppe wie kraut_produktion nicht entziehen. Also sie müssen sich diese Frage für sich ja auch stellen.

Dagmar Walser: Wie stellen sie sich die denn? Also, wie sieht das auf der Bühne auf? Beschreiben Sie doch mal, was passiert da?

Kaa Linder: Ja, das ist von Anfang bis zum Schluss eigentlich nicht so ganz klar, was das passiert. Es gibt das Fabriktheater, was ja normalerweise so schwarz getüncht ist, ist sandfarben gestrichen, es gibt Matratzenberge, es gibt ein Keyboard, ein Schlagzeug, es ist so eine eigentlich klassische kraut_produktion-Bühne, wo alles und nichts stattfinden kann. Und dann kommt die Schauspielerin Sandra Utzinger auf die Bühne und sagt, sie hätte festgestellt, dass die Hora-Leute deutlich weniger verdienen als sie, und dann beginnt eine Versteigerung. Beziehungsweise, es wird gesammelt, ein Sparschwein geht durch die Reihen und man kann da Geld reinstecken, das funktioniert auch total gut, es dann wird… es ist eigentlich eine Kollage: es gibt verschiedene Szenen, Herzblatt wird gespielt, es gibt eine Szene am Strand, dazwischen gibt es Musik, dann läuft wieder mal einer von links nach rechts, also ich finde es total schwierig, was da genau passiert.

Dagmar Walser: Aber das klingt jetzt auch ein bisschen beliebig.

Kaa Linder: Nein, beliebig ist es nicht. Es hat eine ganz klare Form, das merkt man. Nur kann ich das als Zuschauerin nicht immer nachvollziehen und das hat eine grosse… das ist extrem unberechenbar, weil ich natürlich als Zuschauerin immer wieder denke «Ah, jetzt weiss ich was sie machen, jetzt wird mir ein Lied vorgespielt» – und dann ist es aber wieder etwas anders. Also, die Szenen transformieren sich und das hält mich bei der Stange.

Dagmar Walser: Das heisst, man muss ich selbst auch aussetzen. Sie haben das beschrieben, wie sich die Spielerinnen und Spieler aussetzen, in eine Unmittelbarkeit begeben. Das heisst, es wird einem das auch als Publikum abverlangt.

Geneva Moser: Auf jeden Fall! Also ich erinnere mich gut an die letzte kraut_produktion, «The Deconstruction of Death», die ich gesehen habe und da war ich noch sehr ungewohnt im Umgang mit diesem installativen Sammelsurium, was kraut zu tun pflegt. Und auch bei dieser Bühne ist es eigentlich wieder genauso, Sie haben das ja ganz gut beschrieben…

Dagmar Walser: Diese Kollagentechnik, wo die unterschiedlichen Medien zusammenkommen.

Geneva Moser: Genau, wo auch Reality-TV-Ausschnitte plötzlich über die Bühne flackern und an die Wand gemalt wird und Musik plötzlich kommt und ich ein bisschen verwirrt bin in diesem Ganzen. Aber ich glaube es gibt auch ganz prägnante, wiederkehrende Dinge, eben, was Sie schon beschrieben haben, diese Talent-Show, Herzblatt, und es gibt immer wieder kompetitive Situationen, wo ganz willkürlich eine Moderation aus drei Leuten eine Gewinnerin oder einen Gewinner auswählt und entsprechend natürlich auch diejenigen, die verlieren, und ich habe überhaupt keine Ahnung, worum es da eigentlich geht und was da.. und wer da für was belohnt wird. Aber es wird dann applaudiert und diese Leute haben dann gewonnen und das zeigt doch auch ganz deutlich dieses ewige Wettbewerbsdasein.

Dagmar Walser: Also diesen Optimierungsgedanken in der Gesellschaft, der uns ja alle überfallen hat.

Geneva Moser: Total! Und solche Elemente kommen immer wieder. Und daran kann ich mich auch ein wenig halten, wenn ich vom Rest auch manchmal ein bisschen überfordert bin mit Deutungsfreiraum. Ich glaube, dass da eigentlich Hora und kraut_produktion ganz gut zusammenpassen, weil ich hab manchmal die Situation bei Hora, dass ich akustisch oder sprachlich nicht ganz verstehe, was das gesprochen wird, und ich muss dann damit klarkommen, dass ich halt nicht immer alles ganz verstehen kann, und ich finde, da passen Mittel und Sprache der beiden Gruppen ganz gut zusammen.

Dagmar Walser: Das ist ja eigentlich auch eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, die vom Theater Hora. Vielleicht auch, wenn wir davon reden, wie Geschichten vom Rand ins Zentrum gehen. Eben die Gruppe gibt seit 20 Jahren, die hat seit 20 Jahren den Anspruch, wirklich professionell Theater zu machen mit geistig behinderten SchauspielerInnen. Die hatten vor drei Jahren einen durchschlagenden Erfolg mit dem französischen Choreografen Jerome Bell, Welttournee damit; haben vor einem Jahr eine auch erfolgreiche Produktion mit dem anarchischen Puppentheater aus Berlin, das Helmi, gemacht. Jetzt mit der kraut_produktion in Zürich… das scheint eine der begehrtesten Gruppen in der Schweiz gerade geworden zu sein. Wie erklären Sie sich das?

Kaa Linder: Ich denke, es hatte schon auch damit zu tun, dass es natürlich etwas unglaublich provokatives hat, jetzt, auch gesellschaftlich gesehen, auch für das Publikum.. um vielleicht noch kurz auf die Frage von vorhin zurückzukommen: Natürlich gibt es das, und ich glaube, das ist auch der Grund, warum die so boomen, weil bei denen ist am Bühnenrand nicht Schluss mit der Auseinandersetzung, ich muss mich als Zuschauerin die ganze Zeit fragen «wie finde ich jetzt das? Werden die da vorne missbraucht? Warum denke ich, ich muss für die Verantwortung übernehmen? Haben die Spass bei dem?» Das frage ich mich ja nicht, wenn ich ins Schauspielhaus, oder in ein Kleintheater gehe. Da kümmere ich mich um andere Dinge.

Dagmar Walser: Aber das heisst, es ist richtig, es gibt den Unterschied!

Kaa Linder: Es gibt den Unterschied! Und was ich sehr toll finde, jetzt bei «Human Resources», dieser Zusammenarbeit mit kraut_produktion, ist, das sagen ja sowohl Michel Schröder, wie die Spieler, diese Entscheidung: «Wir lassen uns auf die ein!» Also die mussten ja schon am ersten Probentag all ihre normalen Arbeitsgewohnheiten einfach fallen lassen! Weil diese anderen vier einfach etwas mitbringen, was sie zwingt, sich neu zu erfinden! Und dass das in der Theaterszene, gerade in der freien Theaterszene eine gefundene, geschenkte Chance ist, das macht Sinn! Offensichtlich funktioniert es auch.

Dagmar Walser: Und da kommt was zusammen, Sie haben das ganz schön beschrieben, Geneva Moser, dass wenn man mit diesem ‚Material‘ wirklich umgeht, was da auf der Bühne ist, dass das eigentlich ganz nahe an dieser Ästhetik, die kraut_produktion sich in den letzten Jahren entwickelt hat… dass das ganz gut zusammenpasst.

Geneva Moser: Das glaube ich auch. Also ich hatte auch den Eindruck, bei der letzten Produktion von Hora mit Das Helmi, hatte ich vielmehr den Eindruck, da wurde an einer Filmvorlage gearbeitet, und da war viel mehr zuerst Konzept und dann Bühnengeschehen, und hier hatte ich das Gefühl, es wurde sehr viel dynamischer entwickelt und auch mit den einzelnen Ressourcen, die alle mitbringen gearbeitet. Und das finde ich, das kommt sehr gut rüber.

Kaa Linder: Und was natürlich das Team, die Leute von kraut_produktion auf der Bühne verhandeln, ist, dass sie sagen: «Wir sind eigentlich auch Randständige. Wir sind abhängig von den Geldtöpfen der Stadt Zürich, wir müssen um unser Publikum kämpfen.. Eigentlich können wir unsere Leben gerade so knapp führen» – und das wird ja auch auf der Bühne verhandelt. Das wird ja zum Thema gemacht. Wie weit geht man auf der Bühne, um sein Geld zu verdienen? Was liegt da eigentlich alles drin? Und was ist die Gesellschaft bereit zu tolerieren und was nicht? Und das hat natürlich eine Relevanz, die man so normalerweise im «grossen» Theater nicht zu sehen bekommt.

Dagmar Walser: Also eine Kraft dadurch, dass man sich aussetzt, sich auch getraut, sich selbst ernst nimmt, die eigene Geschichte ernst nimmt.