Die Chronisten – Kritik im Schweizer Radio DRS
Als «Chronisten» ist die Zürcher Gruppe kraut_produktion zur Zeit unterwegs. «Die Chronisten oder das Einfangen von Echtzeit» heisst ihr Performance-Projekt in vier Folgen. Auf der Bühne stellen sie einen Chatroom nach. Es ist bereits die dritte Episode dieses Theaterprojekts in der Gessnerallee Zürich. Wir haben unsere Theaterredaktorin Dagmar Walser gefragt: Was versucht der Regisseur einzufangen?
Ich glaube im Kern ist es eine Suche nach theatraler Gegenwartsbeschreibung. Und dies nicht im analytischen, im abbildenden, im besserwisserischen oder zumindest wissenden Sinn, sondern indem sich die Gruppe eben der Gegenwart, der Echtzeit aussetzt. Also wie ein Schwamm die Wirklichkeit aufsaugt und dann, in den 4 Episoden das, was nach der künstlerischen Verdauung übrig bleibt, auf der Bühne wieder auskotzt – und ich benutze diesen Begriff ganz im Sinn des Vokabulars der Gruppe, die den Chronisten als einen beschreibt, der direkt mit dem Jetzt in Interaktion tritt. Vielleicht ein Satz aus dem Programmzettel: «Er, der Chronist, vermengt Gegenwart in sich, lässt sich von ihr füttern, penetrieren und korrumpieren, um sie gleichzeitig zu verkörpern und wieder von sich zu geben.». Es geht also um einen ganz direkten, unmittelbaren körperlichen Umwandlungsprozess von Realität auf die Bühne.
Was heisst denn das konkret in dieser dritten Episode. Was für eine Welt, was für eine Gegenwart ist das denn, der sich da die Gruppe aussetzt?
Für die dritte Episode scheint die Gruppe vor allem sehr tief in den Computer hinein geguckt zu haben und damit in fiktive Welten, eine sehr aktuelle Realität also. Sie bringen zum Beispiel Chatforen auf die Bühne, also etwa Jugendliche, die sich in solchen Gesprächsformen über die Liebe, vor allem die unglückliche natürlich und die Tücken der Sexualität austauschen, oder Deutsche, die in der Schweiz keinen Anschluss finden. Sie haben auf ihrer Echtzeit-Recherche etwa einen Film gefunden, der Bundesrat Merz bei einem Schulbesuch zeigt, bei dem ihm die SchülerInnen ein Gedicht vortragen – sehr bizarr; wir sehen grauenhaftes Kinderfernsehen, kreischend laut, das auf die Wände projiziert wird, oder die Gruppe spielt quasi, eben auch als Fundstück aus dieser Wirklichkeit Videospiele nach, in denen doch eher dumbe Wesen durch eine eben sehr bizarre Welt geschickt werden.
Das klingt nach einer eigenartigen Welt auf dieser Bühne, Dagmar Walser. Wie bringt denn die Gruppe dieses ungewöhnliche «Theater macht real» auf die Bühne? Macht sie das so 1:1?
Ja, ganz direkt. Und das ist auch das faszinierende an diesem Abend. Sie zeigen, sie präsentieren dieses Material, sie spielen es nach. Da sind drei Schauspieler, zwei Schauspielrinnen auf der Bühne, in einer, mit rohen Holzwänden gerade mal angedeuteten Wohnung. Da gibt es ein Bett, ein Stuhl, ein Sofa, auf dem übrigens eine Figur buchstäblich klebt, also bis zum Applaus, wo sie das Sofa hinter sich her trägt. Das sind eigenartige Gestalten und die sprechen dann eben zum Beispiel diese Texte aus den Chaträumen nach. Und dies inklusive der Schreibfehler, die am Computer ja sehr schnell geschehen. Sie stehen da wie in einer Wohngemeinschaft und präsentieren dieses Material und das führt zu einer interessanten Überlagerung dieser zwei Welten und zwei Media, also der digitalen vorgefundenen Welt in den Computern und dem Theater, dem Medium mit echten Menschen, mit echtem Schweiss, mit echten Nachbarn, im Publikum auch – und diese Reibung hat etwas sehr reizvolles.
Das heisst, das Nachspielen auf der Bühne von echten Chats und Internetsequenzen ist also tatsächlich interessant?
Ja, es ist natürlich eine Gratwanderung, weil man ja das andere auch einigermassen kennt und diese Balance zu halten zwischen dem einfachen Aufzeigen und Interpretieren, das gelingt auch nicht immer, muss ich ehrlich sagen. Die grösste Gefahr des Abends ist, in den Kommentar zu fallen, lustig sein zu wollen, diese Figuren vorzuführen, da werden die Figuren dann fast kabarettistisch und, indem sie scheinbar komisch aufgewertet werden, werden auch wieder sehr klein, sie werden zu «den Anderen», sie gehen mich nichts an und damit sind sie uninteressant. Aber da wo die Schauspieler es schaffen, ganz im Moment zu sein, eben nicht zu kommentieren, sondern tatsächlich in dieser sich selbst auferlegten Form Chronisten zu sein und nicht Kommentatoren, da mochte ich den Abend wirklich sehr und da erzählt er mir dann eben auch ganz viel über unsere Welt, auch wenn ich selbst diese digitalen Realitäten gar nicht so gut kenne. Aber diese unreife, übersexualisierte, durch und durch regulierte Art der Kommunikation und der Begegnung, die da zu Tage tritt, da steht ja auch ein Weltbild dahinter, das hat etwas nachhaltiges und hat auch etwas beunruhigendes. Und da ist es tatsächlich eine Gegenwartsbeschreibung, wie ich sie auf dem Theater tatsächlich noch selten gesehen habe.
Die vierte Episode folgt im Mai. Würden sie sich diesem «Echtzeit-Einfangen», diesem «evolutionären Verdauungsvorgang», würden sie sich diesem noch einmal aussetzen?
…Ist ja auch eine wunderbare Vokabel, die die Gruppe da gefunden hat… Auf jeden Fall, und vor allem, weil ich es mag, wie sich die Gruppe diesem Prozess aussetzt. Und ich tatsächlich auch sehr gespannt bin, wo sie dieser Prozess ästhetisch noch hintreiben wird. Weil, natürlich, so wie es eine Welterforschung, eine Realitätserforschung, eine Echtzeiterforschung ist, ist es auch eine Theaterforschung.