Die Züricher „kraut_produktion“ bei Unidram auf der Suche nach der Echtzeit
Die Chronisten 1 & 2 – Potsdamer Neuste Nachrichten, 2.11.2010
Für einen derart sintflutartigen Theaterabend reichte das T-Werk nicht aus. Selbst die Waschhaus-Arena, sonst in Hochbühne und Parkett geteilt, musste für die sechs „Chronisten“ der Züricher „kraut_produktion“ umgebaut werden. Frühere Projekte wie „Schlachtplatten 1-4“ oder „Herz der Finsternis“ ließen bereits ahnen, womit sie handeln und hadern: Mit Gegenwart und Zukunft, die ihnen Angst machen, und die sie nicht ändern können. Unidram in der bereits 17. Auflage darf die „Deutschland-Premiere“ zweier von vier Teilen dieser Multimedia-Annalen für sich verbuchen.
Die Darsteller, fünf Männer und eine Frau, sowie eine durch sie veränderte, besser verwüstete Bühne sind die einzigen Konstanten des sonntagabendfüllenden Unikums. Sonst gibt es hier beim „Einfangen von Echtzeit“ viel Handlung, aber keine Fabel, mehr metaphernhafte Bilder als eine brauchbare Sprache, oder was von ihr übrig bleibt beim Stammeln im Chat-Room, voller Erwartung. Einheit von Zeit und Raum sind gewahrt, aber das bedeutet nichts mehr. Inneres drängt nach außen, das Äußere krebst sich im Inneren fest.
Alles geht durcheinander, wird getürmt, durcheinandergeschüttelt, wie Gedanken eben so sind: Die Bühne ist eine mehrfach gefaltete Kulisse mit acht Türen, grob wie Holz, billig wie eine verlotterte Neubau-Wohnung. Fernseher, Uralt-Couch. Michel Schröder, der begnadete Regisseur mit einer Ästhetik aus vergangener Zeit, wirbelt verschiedene Handlungsebenen und Stile durcheinander. Man erlebt eine mehr oder weniger appetitliche Familiengeschichte mit Tendenz zum asozialen Naturalismus, Metaphern-Szenen, Bildertheater der üblichen Art, satirische Paraphrasen, Show, Film- und Videoprojektionen, dazu eine Sprache, die eher nichts, als etwas bestimmtes sagt, oder meint. Wo, wenn nicht hier wäre das Wort „multimedia“ angebracht, denn was nicht zusammenpasst, addiert sich immer.
Im ersten Teil geht es wüst und eklig zu. Aus dem sprachlosen Bloggerforum erwächst ein Abgesang auf diese Gesellschaft, wo es um nichts mehr geht. Ein Michael zum Beispiel trifft die Erwartungen beim Show-Casting nicht, er wird zur Sau gemacht. Single-Treffen enden mit Turbo-Quickies, eine Gasmaskenfrau führt drei Hunde mit riesig leeren Köpfen aus. Zuletzt schluckt auf der Couch einer Bier, kotzt es aus, ein zweiter schüttet es nackt in den Seidel zurück, man übergießt sich mit ekligen Viskositäten, zerfetzt Federbetten, bis alles in einem stinkenden Chaos versinkt. Dazu parlieren Bosse mit Nadelstreifen auf der Wand über Finanzen und Weltwirtschaft. „Give peace a chance“, singt John Lennon dazu.
Viel Provokation, viel Beifall im vollbesetzten Parkett, die helvetische Botschaft wurde verstanden: Alles Scheiße, alles künstlich, schrill, die Leute hohlköpfig, leer. Pause!
Teil Zwei fühlte sich eher dem „Realismus“ und dieser dreckigen Bühne verpflichtet. Hier wird der Einzug der Sechse probiert, aber alles geht schief, sogar eine Kulissenwand kippt um. Unmöglich, ein gottgefälliges Leben zu führen, wenn der Beichtvater nur mit Zitaten um sich wirft, wenn Darsteller nur noch „Playback“ reden können, wenn Tarzan im Lendenschurz (und einer Blume im Hinteren) auftaucht, Hardrock und Rap kraftvoll durch die Akustik dröhnen und alle sich letztlich entblößen, bis auf die innere Buxe.
Die Kunst des Spiels beim minutenlangen Shake hands, die schrille Szenerie beim politischen Neujahrsgelaber an der Wand, die endlose Flutung mit Nachricht und Bild, die sauber gesetzten Breaks, die Kunst der Endlosschleife beim beredten Schweigen, vor allem ein Geist, der sich auf offener Bühne aus Abscheu und Ratlosigkeit mischte. Hier entblößte man sein Innerstes, hier ließ man drei kurze Stunden lang aus purer Weltangst wirklich „die Hose runter“. Prima, wenn auch zu spät!
von Gerold Paul