Eine Stunde lang fesselnd: Die Gruppe kraut_produktion iszeniert Franzobels preisgekrönten Text «Die Krautflut».
Kritik im Tagesanzeiger vom 26.6.2000
Geht das? Lässt sich dieser verrückte und verspielte Text, dessen Melodie so wichtig ist wie seine Bedeutung, theatertauglich machen? Darf man ihn auseinanderreissen und neu montieren? Franzobels Erzählung «Die Krautflut», die dem Autor 1995 den Ingeborg-Bachmann-Preis eingebracht hat, ist zuallererst ein klangliches Ereignis. Und dennoch ziehen sich diese Wortpurzeleien, die in der Tradition der «Wiener Gruppe», Oswald Wieners und Konrad Bayers, stehen, nicht einfach auf ihr innerstes Material zurück, bilden nichts mehr ab und verweigern jeden Sinn. Dennoch erzählen sie eine handfeste Geschichte um Liebe, Verrat und Mord aus Eifersucht. Das ist die Merkwürdigkeit der «Krautflut».
Die Bedenken zerstreuen sich rasch im Säulensaal auf dem Löwenbräu-Areal, der ganz in warmem Orange gehalten ist. Der Anfang ist fremdartig, ungewohnt, fesselnd. Während der ersten Minuten fällt kein einziges Wort, nur ein dumpfes, schweres Hämmern erfüllt den Saal. Ein Mann lehnt an einer Säule. In einiger Entfernung von ihm stehen zwei Frauen und ein weiterer Mann. Blicke gehen hin und her, aber in krass verlangsamtem Tempo, wie in Super-Zeitlupe. Was läuft hier ab? Was haben sie hier zu tun? Und wie steht das Quartett zueinander? Das ist alles sehr rätselhaft. Plötzlich drückt das Gesicht des Mannes grosses, ungläubiges Erstaunen aus. Noch wandern seine Blicke in die Runde, dann sackt er langsam zu Boden. Ein Pistolenschuss, so erfährt man einige Momente später, hat ihn niedergestreckt.
Schnell wird klar: Regisseur Michel Schröder findet eigene Töne für Franzobels Wortmusik. Er stellt die Sätze des Autors in einen eigenen, hochgradig künstlichen Raum hinein. Blicke, Gesten, Lächeln, Achselzucken, Schweigen – mit diesen nonverbalen Mitteln erzählt Schröder was abläuft zwischen Franzobels Figuren, zwischen Hargenauer und seiner Gattin Frauke, zwischen Haurucker und dem «Fräulein», dem zweiten Paar – wie sie sich annähern und abstossen, wie es zum Seitensprung kommt und wie darauf der eine Mann den anderen erschiesst. Die Schauspieler Vanessa Brandestini, Monika Dierauer, Nils Torpus, Michael Wolf machen das mit viel Gespür für Nuancen. So verschafft sich die Inszenierung Freiraum gegenüber dem Text. So bekommt sie auch eine eigentümliche Komik.
Es hat nämlich etwas Entzückendes, wenn die Figuren mit Nachdruck aufeinander einreden, als könne am Sinn ihrer Reden nicht gezweifelt werden – wo doch in Tat und Wahrheit die Sturzbäche aus Neologismen und unvollendeten Sätzen dem Verständnis den allergrössten Widerstand entgegensetzen. Lange tragen diese irren Dialoge, die bei Franzobel keine Dialoge sind, den Abend. Doch nicht bis zum Ende.
Sehr lustig die Szene, in der man den Wert des Arbeitens diskutiert und sich dabei Benn-, Hesiod- und Humboldt-Zitate an den Kopf wirft. Und witzig auch, wie vom Einkauf «scharfer Pfefferoni» berichtet wird. Doch in der letzten halben Stunde sackt die Aufführung merklich ab. Es kommt nichts Neues mehr. Selbst im Trubel und Lärm jener Episode, die im Festzelt spielt, ist von der anarchischen Kraft der «Krautflut» nichts mehr zu spüren.
Benedikt Scherer